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1. Kapitel

Definition von „Schulrhythmen"

 

 

Der Begriff „Schulrhythmen" bzw. « rythmes scolaires » ist seit ungefähr einem Jahr in Luxemburg immer mehr ins Zentrum schulpolitischer Diskussionen gerückt. Spätestens seit der von der Ministerin für Nationale Erziehung, Anne Brasseur (Demokratische Partei – DP), im Rahmen einer Pressekonferenz (9. März 2000) gemachten Ankündigung, die Unterrichtsstunden im Primarschulwesen von 29 auf 28 zu senken, vervielfachten sich Presseberichte, vor allem auch veröffentlichte Briefe an die Zeitungsredaktionen, welche sich direkt oder indirekt mit dem Thema „Schulrhythmen" befassten. Dabei stellt sich jedoch die Frage, was die Verfasser besagter Artikel und Leserbriefen überhaupt unter dem Begriff „Schulrhythmen" (manchmal liest man auch die Einzahl „Schulrhythmus") verstehen. Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, dass dieser Ausdruck zu einem Modewort geworden ist, bei dessen Gebrauch nicht immer der eigentliche Sinn des Begriffs gemeint ist.

 

1.1    Die Bedeutung des Begriffs „Schulrhythmen"

1.1.1    Wissenschaftlicher Bezug

Beim Begriff „Schulrhythmen" handelt es sich um ein zusammengesetztes Wort, das aus den beiden Begriffen „Schule" und „Rhythmus" gebildet wird. Dabei deutet der erste Wortteil „Schule" auf den gesellschaftlichen Bereich hin, in dem der zweite (Haupt-)Teil des Begriffs zu sehen ist. Wenden wir uns also zuerst der Bedeutung von „Rhythmus" zu.

 

a.    Was versteht man unter „Rhythmus" ?

Die meisten von uns bringen den Begriff „Rhythmus" wahrscheinlich in Zusammenhang mit Bewegung und Musik. Dabei steht der Rhythmus in direktem Verhältnis zur Zeit: nach Duden [1] lautet die Definition dieses aus dem Griechischen stammenden Wortes „regelmäßige Wiederkehr; geregelter Wechsel; Zeit-, Gleich-, Ebenmaß; taktmäßige Gliederung". Ein Rhythmus ist also ein regelmäßiger und periodischer, da wiederkehrender Wechsel. Je nach Art der wechselnden Beschaffenheit unterscheidet man verschiedene Rhythmen, z.B. Tanzschritte oder Taktfolge, um bei den oben erwähnten Gebieten der Bewegung und der Musik zu bleiben.

In einem weiteren Sinne jedoch nimmt man heutzutage an, dass in allen naturwissenschaftlichen Bereichen eine Rhythmik vorhanden ist, sei es nun bei den Bewegungen des Universums oder bei Zellen, den Basiseinheiten eines jeden lebenden Organismus. Dabei interessieren wir uns im Besonderen für die biologischen und/oder psychologischen Rhythmen, die das menschliche Leben bestimmen.

 

b.    Biologische Rhythmen

Beim Menschen lassen sich verschiedene physiologische Rhythmen beobachten, von der einzelnen Zelle über die Organe, Gewebe und Funktionseinheiten bis zum Organismus in seiner Gesamtheit. Dabei stehen sie alle in Zusammenhang miteinander, so dass man von einer von der Zeit geprägten Struktur (« structure temporelle » [2]) sprechen kann. Die Wissenschaft, die diese zeitliche Dimension in das Studium der physiologischen Prozesse, welche die Lebewesen regulieren, mit einbringt, nennt man Chronobiologie. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass die Chronobiologie im Gegensatz zur „Theorie" der Biorhythmen eine Wissenschaft ist, was man von letzterer aufgrund fehlender empirischer Untersuchungen nicht behaupten kann. So nimmt man bei der Theorie der Biorhythmen an, dass der menschliche Organismus von drei Hauptbiorhythmen abhängt: dem physischen, dem emotionellen und dem intellektuellen mit respektiven Perioden von 23, 28 und 33 Tagen. Diese Werte haben jedoch eher hypothetischen denn empirischen Charakter.

Man kann die biologischen Rhythmen nach der Dauer ihrer Periode (d.h. des Zeitabschnitts, nach dem das sich verändernde Phänomen wieder „von vorne" anfängt) einteilen. So hat man einerseits die bekannten ±24-Stunden-Rhythmen, in der französischen Literatur « rythmes circadiens » genannt (vom Lateinischen circa: ungefähr, und dies: Tag), von denen der am einfachsten zu beobachtende durch den Wechsel zwischen Wachen und Schlafen gegeben ist. Diese Rhythmen sind durch eine Reihe von Parametern messbar, z.B. Körpertemperatur, Blutdruck, Puls, Atmung, Hormonausscheidungen, usw. Andererseits unterscheidet man Rhythmen, deren Periode kürzer (« rythmes ultra-diens ») oder länger (« rythmes infradiens ») als 24 Stunden ist. Der ersten Kategorie sind beispielsweise die Herzschläge oder die Atembewegungen zuzuordnen, während der weibliche Menstruationszyklus der wohl bekannteste Rhythmus der zweiten Kategorie darstellt.

Nach heutigem Wissensstand [3] können wir annehmen, dass die biologischen Rhythmen angeboren sind und sich unter dem Einfluss so genannter äußerer Zeitgeber natürlicher Art (z.B. Wechsel zwischen Tag und Nacht, Wechsel der Jahreszeiten, … ) oder künstlicher Art (z.B. Arbeitszeiteinteilung, Schulkalender, … ) verändern können.

 

c.    Psychologische Rhythmen

Neben den rein physiologischen Körperfunktionen ist es auch aufschlussreich, mentale Kriterien wie z.B. Aufmerksamkeit oder intellektuelle Leistungsfähigkeit, bzw. deren zeitliche Veränderung zu erfassen. So entstand, ähnlich der Chronobiologie im Wissenschaftsgebiet der Biologie, die Chronopsychologie, der Teil der Psychologie, der sich mit Verhaltensveränderungen um ihrer selbst Willen befasst [4]. Dabei handelt es sich hauptsächlich darum, Profile der täglichen Leistungsfähigkeit aufzustellen und den Einfluss bestimmter situations- und aktivitätsgebundener, aber auch denjenigen individueller Faktoren auf die psychologischen Rhythmen zu bestimmen.

Diesbezügliche Feldstudien beschränkten sich bisher fast ausschließlich auf die Welt der Erwachsenen und betrafen die periodischen Veränderungen der körperlichen und/oder mentalen Aktivität auf verschiedenen Arbeitsplätzen, wie z.B. Fabriken oder Baustellen. Obwohl bereits gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Studien (Ebbinghaus, Gates, Winch, Laird) sich mit dem intellektuellen Leistungsprofil von Schülern befassten, wurden erst kürzlich neuere Studien unternommen, welche sich speziell den Rhythmen der Kinder widmeten [5].

 

1.1.2    Bezug zum allgemeinen Sprachgebrauch

Wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, steht der Gebrauch des Begriffs „Schulrhythmen" nicht immer in direktem Zusammenhang mit den biologischen oder psychologischen Rhythmen der Kinder, so wie die Chronobiologen und
-psychologen es sehen würden. Stattdessen treffen bei der Deutung dieses Begriffs widersprüchliche Meinungen aufeinander. Einige sehen in den Schulrhythmen das Fortschreiten der Schüler in ihrem Lernprozess, andere setzen sie mit dem Wechsel der Aktivitäts- und Ruhephasen gleich, die durch die gesellschaftliche Institution Schule vorgegeben werden, in anderen Worten mit der Arbeitszeiteinteilung auf täglichem, wöchentlichem oder jährlichem Niveau. Wiederum andere definieren die Schulrhythmen als eigene Rhythmen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen im schulischen Kontext. Der bei dieser Meinungsvielfalt entstehende Widerspruch besteht darin, dass Schulrhythmen einerseits mit Schulzeiten oder -organisationen, andererseits mit jeder periodischen Veränderung beim Schüler gleichgesetzt werden.

 

1.2    Eingrenzung der Problematik

Der Begriff „Schulrhythmen" sollte unserer Meinung nach aufgrund der widersprüchlichen Meinungen, was seinen eigentlichen sprachlichen Gebrauch betrifft, nicht einfach als Schlagwort herhalten, um z.B. eine Änderung des wöchentlichen Stundenplans der Primarschule zu erzwingen. Stattdessen wollen wir mit dem Begriff „Schulrhythmen" eher die Problematik ansprechen, die dadurch entsteht, dass in den von der Schule betroffenen Teilen unserer Gesellschaft verschiedene Lebensrhythmen aufeinander treffen.

Einerseits haben wir die Schüler, die nach ihren persönlichen biologischen und psychologischen Rhythmen in einem Umfeld leben, das seinerseits diesen Rhythmen sowohl natürliche als auch soziokulturelle Einflussfaktoren entgegen setzt (« L‘homme est rythmes et vit dans les rythmes » [6]). Andererseits bestehen Schulorganisationen, welche durch die tägliche Zeiteinteilung, den wöchentlichen Stundenplan, sowie die Verteilung der Ferien im Jahr eine eigene Rhythmik bestimmen. Das Problem besteht nun darin, diese beiden Arten von Rhythmik miteinander in Übereinstimmung zu bringen, indem man Schul- und Ferienzeiten anbietet, die in Harmonie sind mit den Lebensrhythmen der Schüler.

Dafür jedoch muss eine gewisse Synchronisierung von menschlichen und umweltbedingten Rhythmen entstehen. Im folgenden Kapitel gehen wir zuerst auf die äußeren Rahmenbedingungen ein, wie sie im Großherzogtum gegeben sind, um uns dann im dritten Kapitel näher mit den entwicklungsbedingten Aspekten des Kindes zu befassen.

 

[1] Duden, 1996, S. 623

[2] A. Reinberg, Considérations générales sur les rythmes circadiens et circannuels de l‘homme, in: Les rythmes de l‘enfant et de l‘adolescent, H. Montagner, Stock-Laurence Pernoud, Paris, 1983, p. 100

[3] G. Fotinos & F. Testu, 1996

[4] « étudier les changements du comportement pour eux-mêmes »: Paul Fraisse, Éléments de chronopsychologie. Le travail humain, 2, 1980, p. 354

[5] F. Testu, 1994

[6] G. Fotinos & F. Testu, 1996, p. 43

 

Bibliografie

 

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