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3. Kapitel

Wissenschaftliche Aspekte

 

 

Im letzten Kapitel haben wir die Problematik der Schulrhythmen zuerst vom geschichtlichen Standpunkt aus belichtet, um dann den Einklang der aktuellen Schulzeiten mit den heutigen Familien- und Gesellschaftsstrukturen in Frage zu stellen. Die Begründung der traditionellen Schulzeiten seitens der politischen Autoritäten kann jedoch bestenfalls mit dem persönlichem Gutdünken einzelner Entscheidungsträger in Verbindung gebracht werden; von Forschungs- oder Studienergebnissen, welche diese oder jene Anordnung empirisch stützen würden, fehlt im luxemburgischen Schulsystem bislang jede Spur. Oft begegnet man in den offiziellen Texten der lapidaren Rechtfertigung « pour des raisons d‘ordre pédagogique », wenn es darum geht, eine Neuerung einzuführen oder aber an einem bestehenden System festzuhalten. Auf der anderen Seite wird das Verlangen nach anderen Schulzeiten und nach vom Schulsystem angebotenen Kinderbetreuungsmöglichkeiten eher durch den (oft von der Arbeitswelt abhängigen) Lebensrhythmus der Erwachsenen denn durch den ihrer Kinder bestimmt.

In diesem Kapitel versuchen wir, Erklärungen für diese politische Vorgehensweise zu geben. Deshalb wenden wir uns zuerst bisherigen Forschungsergebnissen und Ratschlägen aus dem Gebiet der kindlichen Lebensrhythmen zu, dem sich die Wissenschaft erst kürzlich zugewendet hat, dies aus der Sicht eines französischen Wissenschaftlers. Daraufhin wird die Sichtweise eines deutschen Schlafforschers beschrieben. Zum Abschluss wird dann erläutert, wie weit diese Aspekte in die schulpolitischen Entscheidungen über die Schulrhythmen in Luxemburg mit einfließen.

 

 

3.1    Chronobiologische und chronopsychologische Aspekte

Im Rahmen seiner Forschungen im Bereich des schulischen Misserfolgs hat der französische Universitätsprofessor Hubert Montagner u.a. den Einfluss der kindlichen Lebensrhythmen auf die Leistungen in der Schule untersucht [19]. In diesem Teil versuchen wir, einen kurzen Einblick in seine Forschungsergebnisse zu geben. Dabei werden wir jedoch nicht auf die verschiedenen Studien im Detail eingehen, sondern wir begnügen uns damit, die wesentlichen Resultate herauszugreifen. Der interessierte Leser hat allerdings die Möglichkeit, mit Hilfe des Literaturverzeichnisses einen näheren Einblick in diese komplexe Materie zu wagen.

 

3.1.1    Die Tagesrhythmen in der Schule

a.    Die biologischen Rhythmen

Beobachtungen bei Grundschulkindern haben gezeigt, dass Verhaltensauffälligkeiten, die auf Müdigkeit schließen lassen (z.B. Gähnen) hauptsächlich zu Beginn der Vor- und Nachmittage (respektiv gegen 9 und 14 Uhr) auftreten, im Vergleich mit den restlichen Tagesabschnitten. Während des ersten Trimesters ist dieses Verhalten bei sechs- bis siebenjährigen Schülern auch gegen Vormittagsende (zwischen 11 Uhr und 11.30 Uhr) häufig zu beobachten, was darauf schließen lässt, dass drei Stunden Unterricht am Vormittag für diese Altersstufe schon zu lang sind.

Neurophysiologische Forschungen haben ergeben, dass die Wachsamkeit des Gehirns (die Fähigkeit, eine steigende Zahl an Informationen aus der Außenwelt aufzunehmen) langsam und progressiv während den Stunden nach dem Aufwachen zunimmt. Nach dem Mittagessen nimmt sie wieder ab (postprandiale Müdigkeit), um im Laufe des Nachmittags wieder zuzunehmen und ein Maximum in der zweiten Nachmittagshälfte zu erreichen. Diese Ergebnisse lassen darauf schließen, dass auch in der Schulzeit zu Beginn der Vor- und Nachmittage das Wachsamkeitsniveau eher gering ist, was zur Folge hat, dass die Schüler in diesen Momenten größere Schwierigkeiten empfinden, den Erwartungen des Lehrers gerecht zu werden.

 

b.    Die psychologischen Rhythmen

Im Bereich der Chronopsychologie haben Arbeiten von Blake (1967) und Testu (1982-1994) mit Schülern verschiedener Alterskategorien ähnliche Ergebnisse erbracht. Dabei wurden mit Hilfe von verschiedenen Testbatterien die Verhaltenswachsamkeit (d.h. die Rezeptivität gegenüber Umweltreizen), die Aufmerksamkeitsfähigkeit (global und selektiv), die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung u.a.m. erfasst. Dabei wurde gezeigt, dass die Leistungen in Primar- und Sekundarschule den gleichen Schwankungen ausgesetzt sind, mit schwächeren Leistungen zwischen 8.30 Uhr und 9.30 Uhr am Vormittag und 13.30 Uhr und 14.30 Uhr am Nachmittag (postprandiale Müdigkeit).

 

c.    Familiäre und soziale Einflüsse

Montagner hat festgestellt, dass die Indikatoren, die zu Beginn des Vormittags ein geringes Wachsamkeitsniveau oder einen Schläfrigkeitszustand anzeigen, vom Schlaf-Wach-Rhythmus und somit vom Schlafmangel abhängig sind. Dabei zeigt er darauf hin, dass besonders in familiär und sozial benachteiligten Milieus (in Frankreich « zones d‘éducation prioritaires » genannt) Schwankungen im Schlaf-Wach-Rhythmus die Regel sind.

Dem gegenüber sind die Zeichen von Unaufmerksamkeit und Schläfrigkeit weniger häufig und dauerhaft bei Schülern, die einen regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus haben. Dies ist umso manifester bei Kindern, deren Familie einer, vom sozioprofessionnellen und soziokulturellen Standpunkt aus gesehen, höher gestellten Schicht angehören.

Die Resultate von Testu gehen in die gleiche Richtung. Es scheint also, als würden die guten Schüler und die unter familiären und sozialen Gesichtspunkten nicht benachteiligten Kinder fähig sein, die biologischen Zwänge, die ihnen die Rhythmik ihrer physiologischen, psychophysiologischen und psychologischen Funktionen stellen, zu überwinden oder auszugleichen.

 

d.    Die Komplexität der „Rhythmenfrage"

Um die Einflüsse zu verstehen, die die interne Rhythmik hervorheben oder verdecken, müssen wir also eine ganze Reihe von Phänomenen berücksichtigen. Das familiäre Umfeld des Kindes spielt ebenso eine Rolle wie die Organisation der pädagogischen Aktivitäten.

Die Lebensrhythmik des Kindes hängt von seiner eigenen Schlaf-Wach-Rhythmik ab, die ihrerseits wieder von äußeren Zeitgebern natürlicher Art, wie dem Tag-Nacht-Rhythmus, oder aber künstlicher Art, wie der Zeiteinteilung der gleichen ökologischen und sozialen Nische (Eltern, Gleichaltrige, usw.), abhängt. So hat man festgestellt, dass in Gegenden, wo die Menschen früher aufstehen als in unseren Breitengraden, z.B. in der Martinique oder auf der Ile de la Réunion, die Momente schwächerer Wachsamkeit und Aufmerksamkeit der Schüler meist zwischen 8 Uhr und 9 Uhr liegen (und nicht zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr, wie bei uns), bei ebenfalls früherem Schulbeginn (zwischen 7.30 Uhr und 8 Uhr).

Wie Testu herausgefunden hat, variieren die Leistungsschwankungen der Schüler außerdem mit der Art der Tests und Aufgaben, die in der Schule zu bewältigen sind. Darüber hinaus spielen nicht nur die Fächer und Unterrichtsaktivitäten eine Rolle, sondern auch die pädagogischen Methoden, die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, sowie andere Zwänge des Schullebens wie z.B. der Wechsel in eine andere Schule. Je nachdem wann die Kinder welche sportliche und körperliche Aktivitäten unternehmen, werden wiederum biologische und psychologische Rhythmen verändert.

Bei der Frage nach dem Zusammenspiel zwischen Schulrhythmen und Lebensrhythmen bleiben also noch viele chronobiologische, chronopsychologische und pädagogische Aspekte zu erforschen.

 

3.1.2    Die Rhythmen der Schule

a.    Die wöchentlichen Schwankungen

Bezogen auf die Situation in Frankreich [20], beschränkt sich die Regelung der Schulzeiten hauptsächlich auf die Einführung einer Schulwoche mit freiem Samstag, was bei den in Frankreich üblichen Grundschulzeiten mit freiem Mittwoch zu einer Woche mit vier Unterrichtstagen führen würde (im Gegensatz zu den bisherigen viereinhalb Tagen Unterricht pro Woche).

Nach Montagner gibt es jedoch noch nicht viele zuverlässigen Studien über die wöchentlichen Rhythmen der Kinder. Lediglich die spezielle Position des Montags unter den übrigen Wochentagen gilt als erwiesen. Dabei ist das schwächere montägliche Leistungsniveau der Schüler vor allem auf die anderen Zeitgeber des Wochenendes zurückzuführen. Was jedoch den Vergleich zwischen vier und viereinhalb Tagen Unterricht pro Woche anbelangt, liegen keine gültigen Resultate über eventuelle Leistungsunterschiede der Schüler vor. Montagner geht sogar noch weiter, indem er schreibt, dass im allgemeinen keine wissenschaftliche Studie bisher erlaubt, anzunehmen, dass diese oder jene wöchentliche Zeiteinteilung besser ist als eine andere.

 

b.    Die jährlichen Schwankungen

Was die so genannten « rythmes infradiens » (jene, deren Periode lang ist) anbelangt, gibt es laut Montagner noch weniger Studien, da es sehr schwierig, oft gar unmöglich ist, die gleichen Individuen während einer längeren Zeit zu beobachten. Nichtsdestotrotz hat man herausgefunden, dass in den Monaten Februar und März in der nördlichen Hemisphäre sowohl Kinder als auch Erwachsene größeren physiologischen und psychophysiologischen Schwierigkeiten ausgesetzt sind. Die Menschen sind hier also krankheitsanfälliger als zu anderen Jahreszeiten.

Darüber hinaus wird die Annahme, dass zwei Wochen Ferien einer Pause von einer Woche vorzuziehen sind, sowohl von Erziehern und Lehrpersonen, als auch von Eltern bestätigt. So berichten z.B. eine Mehrzahl von Lehrkräften, dass Ferien von zehn oder zwölf Tagen ungenügend seien, um die in der Schulzeit aufgebaute physische und psychische Müdigkeit abzubauen, besonders bei acht oder neun Schulwochen hintereinander.

 

3.1.3    Konsequenzen für den Schulalltag

Aus den in den beiden vorigen Abschnitten beschriebenen Erkenntnissen leitet Montagner verschiedene Ratschläge für die schulische Praxis ab. Dabei setzt er als Prämisse, dass die Länge der Schultage den Fähigkeiten der Kinder folgendermaßen angepasst werden müsste: drei bis dreieinhalb Stunden für die Vorschulkinder, vier Stunden für die Erstklässler und viereinhalb Stunden pro Tag für die restlichen Grundschulkinder [21]. Wünschenswert wäre außerdem eine gewisse tägliche Flexibilität dieser Dauer je nach Schwierigkeitsgrad der Aktivitäten und Befindlichkeit von Lehrperson und Schülern.

Wenn man die « journée pédagogique » nach den Zeitabschnitten erhöhter Wachsam- und Aufmerksamkeit einrichten würde, müsste man in der Grundschule die Zeiten zwischen 9.30 Uhr und 11.30 Uhr, sowie zwischen 15 Uhr und 17 Uhr nutzen.

 

a.    Der Vormittag

Einerseits sollte man den Kindern keinen zu frühen Schulbeginn zumuten, andererseits sollte man diesen flexibel gestalten, da es einfach zu viele individuelle Unterschiede bei den Kindern gibt.

Montagner benutzt den Ausdruck « temps-sujet », um eine gewisse „Auszeit" zu bezeichnen, die dem Kind zugestanden wird und die es selbst nach seinen Bedürfnissen gestalten kann, ohne dabei gefährlichen und unüberwindbaren Hindernissen zu begegnen. Das bedingt allerdings das Vorhandensein eines entsprechenden Umfelds, z.B. das Vorhandensein einer Schlaf- oder Schlummerecke, von Büchern, Spielen, usw. Diese Infrastrukturen und Materialien können darüber hinaus auch von den Lehrpersonen für den Unterricht genutzt werden. Fehlen diese Möglichkeiten, kann die LehrerIn den Kindern eine Geschichte erzählen, oder eine Phantasiereise veranstalten. Nachdem die Kinder in der Schule angekommen sind, können sie auf diese Weise erst einmal ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen. Nach dieser Auszeit dürften dann die meisten zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr in ihre Klasse gehen und sich dort auch den pädagogischen Aktivitäten gegenüber rezeptiv zeigen.

 

b.    Die Mittagspause und der Nachmittag

Was die Mittagspause anbelangt (im Falle des Verbleibens in der Schule), so könnte auch diese Zeit im Sinne eines « temps-sujet » gestaltet werden. Dabei sind besonders in Bezug auf die Schulkantine die entsprechenden Strukturen so zu gestalten, dass sie nicht zusätzlichen Stress verursachen, insbesondere was den diese Räume erfüllenden Lärm betrifft. Nach der Mahlzeit wäre es sinnvoll, den Kindern sowohl Räumlichkeiten in Gebäuden als auch im Freien anzubieten, deren Ausstattung ihren Bedürfnissen entgegenkommen, u.a. auch Ruheplätze, Plätze zum Träumen und Dösen. Doch auch von außerschulischen Vereinigungen angebotene Aktivitäten könnten diese « temps-sujet » gestalten helfen, z.B. Sport.

Die Bedeutung einer adäquaten Gestaltung der Mittagspause liegt also darin, jedem Kind die Möglichkeit zu geben, sich physisch und psychisch aufzubauen und wenigstens einen Teil seiner negativen Befindlichkeiten, wie z.B. durch sein Umfeld produzierte Ängste, zu „vergessen". Wie auch während des « temps-sujet » am Morgen erhalten die Pädagogen gleichzeitig dabei die Gelegenheit, die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Schüler besser zu erkennen, und sie gegebenenfalls bei der Gestaltung ihres Unterrichts mit zu berücksichtigen.

Nach dem Unterricht am Nachmittag ist es schließlich denkbar, den Kindern ein weiteres « temps-sujet » in den oben erwähnten Räumlichkeiten anzubieten, besonders für diejenigen, deren Eltern erst nach 18 oder 19 Uhr von der Arbeit zurückkehren.

 

c.    Schlussfolgerungen

Die eben beschriebene Einführung sogenannter « temps-sujet » lässt sich laut Montagner jedoch nur sinnvoll umsetzen, wenn die Gesamtunterrichtsdauer pro Tag höchstens viereinhalb Stunden beträgt (im Gegensatz zu den in Frankreich üblichen sechs Stunden). Bei gleich bleibender Arbeitszeit könnten die LehrerInnen die « temps-sujet » ihrer Schüler betreuen. Die Eltern hingegen hätten die Möglichkeit, selbst bei der Gestaltung der Freizeitangebote mitzuhelfen.

Die Anpassung der Schule an die biologischen, verhaltensbedingten, psychologischen und intellektuellen Schwankungen der Kinder setzt also eine kombinierte Anpassung von zeitlichen und räumlichen Strukturen voraus. Der anzustrebende Schultag würde dabei aus einem Wechsel zwischen « temps-sujet »- und Unterrichtsphasen bestehen.

 

[19] H. Montagner, 1996

[20] siehe hierzu 4. Kapitel

[21] in Frankreich endet die Grundschule im Alter von 11 Jahren, was unserem 5. Schuljahr entspricht

 

Bibliografie

 

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